Sonntag, den 14.1.2024

Der erste Bürgerrat des Bundestags zum Thema „Ernährung im Wandel“ hat heute seine Empfehlungen beschlossen und der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vorgestellt.

+++ Pressemitteilung +++

Inmitten eskalierender Konfrontation zur Landwirtschaftspolitik in diesen Wochen zeigt dieser Bürgerrat Chancen auf. In erhitzten Debatten kann er gegenseitiges Verständnis entwickeln und Konflikte navigieren.

Der Bürgerrat soll dem Bundestag ein „differenziertes Meinungsbild“ vermitteln, was ein Querschnitt der Bevölkerung zum Thema „Ernährung im Wandel“ denkt.

Hierbei nutzt der Bürgerrat drei Chancen:

  1. Bürger:innen sind „Expert:innen ihres Alltags und ihrer Werte“. Die diverse Stichprobe des Bürgerrates bringt die verschiedensten Lebenswirklichkeiten der Bevölkerung in den Prozess ein und verschafft auch solchen Stimmen Gehör, die sonst häufig ungehört bleiben. Diese Alltags- und Werteexpertise ist gerade beim lebensnahen und kontroversen Ernährungsthema relevant.
  2. Die Diskussionen im Bürgerrat sind informiert. Vorträge von Expert:innen, Exkursionen zu Produktionsbetrieben und praktische Erfahrungen wie gemeinsames Einkaufen stellen die Diskussion der Teilnehmenden auf eine gemeinsame Wissensbasis.
  3. Der Bürgerrat schafft Raum für Austausch und Verständigung. Anders als etwa bei Meinungsumfragen kommen die Teilnehmenden miteinander in ein moderiertes Gespräch – auch solche, die sich sonst im Alltag nie begegnen würden. So reden gesellschaftliche Echokammern erst miteinander statt übereinander, bevor sie zu gemeinsamen Einschätzungen kommen.

In seinen dreieinhalb Monaten Beratung und Diskussion ist der Bürgerrat nun zu neun konkreten Empfehlungen und einer übergeordneten gekommen. Unter anderem fordert der Bürgerrat kostenfreies Mittagessen für alle Kinder, die verpflichtende Weitergabe von genießbaren Lebensmitteln durch Supermärkte und Veränderungen bei der Lebensmittelbesteuerung: Für einzelne gesunde Lebensmittel soll die Mehrwertsteuer ganz wegfallen, für pflanzliche Milch- und Fleischersatzprodukte sowie Bio-Lebensmittel soll der vergünstige Mehrwertsteuersatz von 7% gelten, Zucker soll in Zukunft mit 19% besteuert werden und auch Fleisch unter den normalen Mehrwertsteuersatz von 19% fallen, falls es nicht den besseren Haltungsformen 3 oder 4 entstammt. Der Umbau der Tierhaltung in den landwirtschaftlichen Betrieben soll über eine Tierwohlprämie finanziert werden, die auf tierische Lebensmittel erhoben wird.


Mit seinem Empfehlungen adressiert der Bürgerrat das Ernährungssystem von der Produktion, über Handel und Gastronomie, bis hin zu den Verbraucher:innen. Dadurch navigiert er die verschiedenen Zielkonflikte und Herausforderungen des Ernährungssystems:

  1. Der Umbau der Lebensmittelerzeugung in landwirtschaftlichen Betrieben hin zu Nachhaltigkeit und Tierwohl erfordert finanzielle Unterstützung. Die Bürger:innen sind bereit, mitzubezahlen.
  2. Damit gesunde und nachhaltige Lebensmittel erschwinglich bleiben, wünschen sich die Bürger:innen aber auch Entlastungen durch eine entsprechende Reduktion der Mehrwertsteuer.
  3. Die Frage nach der eigenen Ernährung ist nach dem Votum des Bürgerrates eine Privatsache und die Wahlfreiheit soll maximal erhalten bleiben. In Anbetracht gesellschaftlicher Herausforderungen wie Gesundheit und Nachhaltigkeit ist es aber sehr wohl Aufgabe des Staates, dafür förderliche Rahmenbedingungen zu setzen – sowohl durch Steuern als auch vereinfachte Kennzeichnung.
  4. Der Bürgerrat erkennt zudem an, dass einzelne Herausforderungen im Ernährungssystem jenseits des Einflusses des „Privatindividuums“ liegen und wünscht sich vom Staat mehr Engagement und ein aktives Eingreifen. Supermärkte sollen zukünftig Lebensmittel nicht mehr wegschmeißen dürfen, Verpflegung in Schulen und Kindergärten soll zur Förderung der Chancengleichheit kostenlos werden und die Gemeinschaftsverpflegung in medizinischen Einrichtungen soll durch staatliche Vorgaben und Förderungen gesünder werden.

Die Ergebnisse zeigen, dass Bürger:innen auch zu komplexen Themen fundierte Empfehlungen erarbeiten können, wenn der Beteiligungsprozess gut gestaltet ist: Bürgerräte gelten als „Goldstandard der Beteiligung“ und das Prozessdesign dieses ersten Bürgerrates des Bundestages erfüllt hier viele Qualitätsstandards wie etwa Fairness und Faktenbasis. Wie in unserer Vorabeinordnung zu Beginn des Bürgerrates ausgeführt, baut er auf bisherigen Erfahrungen im In- und Ausland auf und erweitert diese Erfahrungen sogar an einigen Stellen sinnvoll. Beispielsweise haben die Teilnehmenden in der ersten Sitzung selbst festgelegt, über welche Unterthemen sie im Rahmen des Bürgerrates diskutieren. Das gewährleistet die Ergebnisoffenheit des Prozesses und verhindert, dass parteipolitische Erwägungen die Lösungsfindung verzerren.

Gerade in diesen Wochen eskalierender und teilweise entgrenzter Konfrontation und Polarisierung ist der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ ein Vorzeigeprojekt guter demokratischer Debattenkultur. Das Votum des Bürgerrates benennt Missstände und zeigt Verantwortlichkeiten und Lösungsvorschläge auf. Er signalisiert eigene Veränderungsbereitschaft und öffnet einen Möglichkeitsraum jenseits von Populismus, Schwarz-Weiß-Denken und Vereinfachung.

Vor dem Hintergrund steigender Bedrohungen der Demokratie wurden jüngst wieder Forderungen laut, die „schweigende Mehrheit müsse aufwachen“ (Haldenwang). Denn laut sind in der öffentlichen Debatte zumeist die extremen Ränder. Der Bürgerrat kann diese Logik der öffentlichen Polarisierung durchbrechen, da er der „schweigenden Mehrheit“ und Mitte der Gesellschaft eine Stimme gibt.

Nun folgt die Gretchenfrage der Bürgerräte: Was passiert mit den Ergebnissen? Vorgesehen ist zunächst eine Übergabe der Empfehlungen als Bürgergutachten am 20. Februar, eine baldige Aussprache dazu im Bundestagsplenum und eine Überweisung in die Fachausschüsse. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas versicherte am heutigen Sonntag: „Wir werden das im Bundestag sehr ernst nehmen und ihre Empfehlungen sehr intensiv diskutieren.“ Damit die Stimme des Bürgerrats in der Lautstärke der Debatte nicht untergeht, darf es nicht bei Lippenbekenntnissen politischer Sonntagsreden bleiben.

Für den Umgang mit den Empfehlungen sind nun vor allem vier Punkte entscheidend:

  1. Es darf keine ‚Rosinenpickerei‘ geben, bei der sich die Parteien nur zu jenen Empfehlungen positionieren, die ihrer eigenen Linie entsprechen. Alle Parteien sollten sich zu allen Empfehlungen positionieren.
  2. Es sollte auch bei oder nach der parlamentarischen Befassung mit den Ergebnissen noch zu einem Austausch mit den Teilnehmenden des Bürgerrats kommen – etwa in einer Ausschusssitzung des Landwirtschaftsausschusses.
  3. Der Umsetzungsstand der Empfehlungen, deren Überführung in Gesetzesvorhaben oder begründete Ablehnung, sollte noch mindestens einmal – beispielsweise nach einem halben Jahr – im Bundestagsplenum diskutiert werden. Denn die parlamentarische Befassung in den Ausschüssen findet typischerweise ohne Einbindung der Öffentlichkeit statt.
  4. Alle gesellschaftlichen Akteure, die sich für eine Politik der Mitte und eine Stärkung des gesellschaftlich-demokratischen Miteinanders einsetzen, sollten sich mit dem Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ und seinen Empfehlungen auseinandersetzen. Ob Presse, Meinungsträger:innen oder organisierte Interessenvertretungen: Sie alle können das Verfahren und die Ergebnisse in Ihrer eigenen Arbeit berücksichtigen. Nur so bleibt diese Stimme in einer lauten Debatte gehört.

Gerne stehen wir all diesen Akteuren für ein Gespräch zur Verfügung!

Ansprechperson: Katrin Richthofer

Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version hatten wir vorgeschlagen, sich mit den Teilnehmenden auch im Bundestagsplenum auszutauschen. Wir haben diesen Vorschlag gestrichen, weil es verfahrenstechnisch aktuell nicht möglich scheint.