Am 29.09.2023 startet der erste vom Bundestag beauftragte Bürger:innenrat zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“.

Anlässlich dieses Meilensteins demokratischer Innovation auf Bundesebene kommentiert der Verein Klimamitbestimmung e.V. den Prozess in einer Vorabeinschätzung.

Das Instrument ist zwar international erprobt aber in Deutschland vergleichsweise unbekannt. Leider werden gerade in öffentlichkeitswirksamen Plattformen – etwa im Parlament oder in Fernsehtalkshows – immer wieder missverständliche oder falsche Äußerungen über Bürger:innenräte getätigt und überwiegend Extrempositionen wiedergegeben. Das durchkreuzt genau das Ziel eines Bürger:innenrates, Brücken zu bauen, gegenseitiges Verständnis zu entwickeln und erhitzte Debatten zu versachlichen. In diesem Geiste möchte der Verein zu einer aufgeklärten Debatte über Bürger:innenräte beitragen und die häufigsten Missverständnisse richtigstellen.

Die vollständige Vorabeinordnung ist zur Information für Presse und interessierte Öffentlichkeit gedacht und steht hier zum Download zur Verfügung: Vorabeinordnung des Bürger:innenrats „Ernährung im Wandel“

Klimamitbestimmung e.V. ist ein gemeinnütziger Verein mit ausgewiesener wissenschaftlicher und praktischer Expertise zu Bürger:innenräten. Er wurde bereits mehrfach ausgezeichnet und seine Beiträge in einschlägigen Fachzeitschriften ebenso wie überregionalen Medien wie ZEIT Online oder Frankfurter Rundschau veröffentlicht. Seine Ende 2020 eingereichte Bundestagspetition zur „Einberufung eines bundesweiten Bürgerrates zur Klimapolitik” zählt zu den meistgezeichneten Petitionen des Bundestages.

Zur Einordnung teilt der Verein folgende Zitate:

Das Prozessdesign des ersten vom Bundestag eingesetzten Bürger:innenrates „Ernährung im Wandel“ zeigt, dass Bürger:innenräte nicht umsonst als „Goldstandard der Beteiligung“ gelten. Wir sehen wesentliche Qualitätskriterien in dem Prozess verwirklicht: Chancengerechtigkeit der Teilnahme, moderierte und informierte Deliberation sowie die Ergebnisoffenheit und Transparenz des Prozesses. Auch das gewählte Thema „Ernährung im Wandel” ist für einen Bürger:innenrat gut geeignet, da es alltagsnah ist und kontrovers in Politik und Bevölkerung diskutiert wird.

Isabelle Idilbi

Besonders hervorheben möchten wir, erstens, dass die Teilnehmenden wirklich einem Querschnitt der Bevölkerung entsprechen – auch was etwa den Bildungshintergrund oder die Essensgewohnheiten angeht. Zweitens setzt der Bundestag international Maßstäbe, indem er den Teilnehmenden zu Beginn des Bürger:innenrates erlaubt, selbst die Schwerpunkte ihrer Diskussion zu bestimmen. Das vermeidet, dass der Prozess parteipolitisch aufgeladen wird, sichert seine Ergebnisoffenheit und gewährleistet, dass die Teilnehmenden über die Fragen diskutieren, die ihnen selbst wichtig sind. Drittens sorgt die Einrichtung eines durch Fraktionsvorschlag besetzten wissenschaftlichen Beirates für die Ausgewogenheit der im Prozess vermittelten Informationen.

Simon Wehden

Gleichzeitig hatte der Prozess politisch einen etwas holprigen Start. Zum einen lief die Themenfindung des Bürger:innenrates aus unserer Sicht verkehrt herum: Statt von einem politischen Problem auszugehen und nach einem geeigneten Lösungsinstrument zu suchen, war der Ansatz des Bundestages: „Wir wollen das Instrument Bürger:innenrat ausprobieren – aber für welches Problem eigentlich?“ Dieser Ansatz bringt ein parteipolitisches Kalkül in den Themenfindungsprozess ein, das Bürger:innenräte eigentlich genau entschärfen sollen.

Isabelle Idilbi

Wir sagen ganz klar: Bürger:innenräte sind nicht nur Beteiligungs-, sondern vor allem Problemlösungsinstrumente. Sie sollen unseren gewählten Volksvertreter:innen bei schwierigen Fragen weiterhelfen, bei denen sie aktuell trotz Handlungsdruck nicht weiterkommen. Deswegen ist es gut, dass wir nun endlich auch in Deutschland Erfahrung mit politisch einberufenen Bürger:innenräten auf Bundesebene sammeln. Das Instrument ist jetzt im Werkzeugkoffer und kann zur Problemlösung genutzt werden. An entsprechenden Großherausforderungen mangelt es leider nicht.

Simon Wehden

Wichtig ist außerdem, dass der Bundestag bereits bei der Einsetzung eines Bürger:innenrates klarstellt, wie er nachher mit den Ergebnissen umgehen wird. Hierbei gibt es keine Pflicht zur Annahme der Empfehlungen, denn die Abgeordneten bleiben allein entscheidungsbefugt und rechenschaftspflichtig. Aber die Empfehlungen dürfen nicht in der Schublade landen.

Isabelle Idilbi

Wir appellieren an die Union, sich ihrer staatstragenden Rolle gewahr zu werden und dabei mitzuhelfen, die demokratische Partizipation durch die ergänzende Einbindung von Bürger:innenräten auf Bundesebene zu stärken. Und wir appellieren an die Ampel: Wer Fortschritt wagen will, sollte sich nicht hinter der Fiktion verstecken, dass Maßnahmen in einer Volksabstimmung eine Mehrheit finden müssten — denn wir haben keine Volksabstimmung auf Bundesebene. Sie haben als Ampelparteien im Koalitionsvertrag die Einführung von Bürger:innenräten versprochen und gehalten — stellen Sie Ihre Maßnahmen einem Bürger:innenrat zur Abstimmung. Bürger:innenräte haben wir und die sind der Goldstandard.

Simon Wehden

Weitere Informationen:

  1. Artikel Wem nutzen Bürgerräte wirklich? mit Janosch Pfeffer in ZEIT Online (2023)
  2. Beitrag Mehr Mitsprache und Teilhabe von Helen Garber und Sophie Klemm in Frankfurter Rundschau (2023)
  3. Bürger:innenrat Ernährung im Wandel im Parlament des Bundestags