Der Bundestag sucht aktuell nach einer Frage für den ersten politisch einberufenen Bürger:innenrat auf Bundesebene. Damit entscheidet er nicht allein über ein Thema für einen Bürger:innenrat, sondern auch über die zukünftige Rolle von Bürger:innenräten in unserer Demokratie. Wir schreiben über eine einmalige Chance.

Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Tag als die neu gewählte Ampel-Koalition ihr Programm vorstellte. Damals war von „Aufbruch wagen“ die Rede. Teil dieses Wagnisses war der Entschluss, Bürger:innenräte als ergänzendes demokratisches Instrument in Entscheidungsprozesse einzubinden. Seitdem ist viel passiert. Krieg, Proteste und Ungerechtigkeit beherrschen die Schlagzeilen. Im Angesicht der sich überschlagenden Krisen scheinen Partizipationsformate, die faire und faktenbasierte Gespräche ermöglichen, daher bedeutsamer denn je. Bürger:innenräte sind ein solches Format. Sie sollen nicht nur Akzeptanz und Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern, sondern auch echte Beteiligung ermöglichen.

Schon in wenigen Monaten soll der Startschuss für den ersten durch den Deutschen Bundestag einberufenen Bürger:innenrat in dieser Legislatur fallen. Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit beraten die Fraktionen nun darüber, welches Thema die Bürger:innen diskutieren sollen. Die Parteien haben bereits potenzielle Fragestellungen vorgeschlagen, über die es jetzt zu diskutieren gilt. Denn nicht jedes Thema ist geeignet für einen Bürger:innenrat.

Bevor alle Weichen gestellt sind, lohnt es sich also einen genaueren Blick auf die Themenfindung zu werfen. Denn um es auf den Punkt zu bringen: Das transformative Potenzial, das ein Bürger:innenrat entfalten kann, wird durch seine Fragestellung stark beeinflusst.

Bei Bürger:innenräten geht es besonders um Teilhabe und Mitbestimmung. Das Herzstück eines Bürger:innenrats ist ein zufällig geloster möglichst repräsentativer Teil der Zivilgesellschaft, der aktiv eingebunden wird, um informierte Empfehlungen abzugeben. Dadurch erhalten Bürger:innen eine Stimme, die anderenfalls leicht untergeht. Bei dieser Form der Mitbestimmung gilt nicht unweigerlich das Prinzip „je mehr desto besser“. Bürgerinnen und Bürger wollen gar keine maximale Entscheidungsgewalt zugesprochen bekommen. Vielmehr sind klug integrierte und bedachte Formen der Mitsprache erfolgversprechend. Genau diese Balance der bedeutungsvollen Teilhabe sollte sich in der Fragestellung widerspiegeln. 

Nehmen wir exemplarisch das Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“. Dieses Thema wurde 2020 für einen Bürger:innenrat ausgewählt, den der Ältestenrat des Bundestags einberufen hat und der im Januar 2021 seine Arbeit aufnahm. Die Außenpolitik Deutschlands ist zweifellos eine wichtiges Thema, bei dem Bürger:innen sich einbringen (können) sollten. Durch den Umfang der Fragestellung und der Tatsache, dass es zu dem Zeitpunkt kein drängendes außenpolitisches Thema im öffentlichen Bewusstsein gab, war dieses (Bürger:innenrats-)thema ungeeignet. Aktuell würde das anders aussehen. So könnte das Thema deutlich konkreter sein: zum Beispiel Waffenlieferungen im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Hier könnte eine Bürger:innenrat die von ihm erwarteten konkreten und hilfreichen Empfehlungen liefern.
Ungeeignet sind auch Fragestellungen, die zwar ausreichend konkret und fassbar sind, jedoch keine gesellschaftliche Relevanz besitzen, also anders als momentan der Krieg in der Ukraine. Das Thema muss den Bürger:innen demnach wichtig sein oder wichtig werden, wenn sie über das Ausmaß des Problems informiert werden.

Es eignen sich also Herausforderungen, die sowohl politisch als auch gesellschaftlich so kontrovers behandelt werden, dass die Regierung nicht weiterkommt und gefühlt in einer Sackgasse feststeckt. Konfliktbehaftete, aufgeladenen Probleme, so genannte „heiße Eisen“, bei denen es um moralische und ideelle Abwägungen geht, die den Alltag der Bürger:innen betreffen. Denn hier ist die Orientierungshilfe durch informierte Bürger:innen nicht nur hilfreich, sondern die Bürger:innen selbst werden zu Expert:innen.

Das tückische an diesen „heißen Eisen“ ist, dass sie zum einen das größte Potenzial für positive Veränderungen besitzen, zum anderen aber eben auch genau dazu führen: politischer Veränderung. Und das kann unter Berücksichtigung der Ergebnisoffenheit von Bürger:innenräten unsicher und riskant wirken. Sprich: Politiker:innen müssen in kauf nehmen, dass ein Bürger:innenrat Empfehlungen gibt, die ihnen persönlich nicht gefallen. Es ist also verständlich, wenn die Bundespolitik zurückhaltend ist, gezielt solche Themen auszuwählen. Eine Fragestellung, bei der die öffentliche Meinung bereits erkennbar ist, keine Regierungsvorhaben betroffen sind und der Prozess damit parteipolitisch nicht zu zermürbend wird, wirken daneben wie ein sicherer Hafen, in dem man die Kontrolle behalten kann. Solche Bürgerbeteiligung ergibt ein schönes Bild für gelebte Demokratie im Sinne eines fröhlich-besinnlichen Gesprächskreises aber entspricht keiner wirklichen Auseinandersetzung mit realen Herausforderungen. Dieser sichere Hafen der unriskanten Fragestellung ist jedoch aus politischer Sicht trügerisch.  

Das Problem mit den sicheren Häfen

Ein Problem „sicherer“ Themen besteht darin, dass dadurch die Chance verpasst wird, wirklich relevante und positive Veränderungen zu ermöglichen. Diesen Luxus eines „irrelevanten“ Bürger:innenrates, der mehr als Symbol wirkt und weniger als ein wahrhaftiges Instrument der Mitbestimmung, kann sich die Politik nicht leisten. Denn es gibt genügend vernachlässigte „heiße Eisen“, genügend Streitpotenzial, Polarisation und wahrgenommene Spaltung. In Anbetracht der notwendigen Transformation sollte jede Ressource genutzt werden, die effektiv dazu beitragen kann, gesellschaftliche Brücken zu bauen und die real existierenden Herausforderungen anzugehen. Engstirniges Denken und Parteitaktik sollten dabei hinten anstehen. Diese verpasste Chance ist an sich nicht direkt schädlich für die Demokratie des Landes. Es wäre aber schade um das unausgeschöpfte Potenzial. 

„Laberkreis“ statt bedeutungsvolle Teilhabe

Das zweite Problem hingegen könnte sich tatsächlich negativ auf das demokratische Gefüge auswirken, denn es kratzt an der Glaubwürdigkeit der Regierung. Eine ineffektive Themenwahl kann dazu führen, dass Bürger:inneräte schon in ihrer Erprobungsphase auf Bundesebene als demokratische Innovation „verbrannt“ werden, indem das Instrument als „Scheinbeteiligung“ oder „Laberkreis“ wahrgenommen wird. Für Bürger:innen könnte dadurch der Eindruck entstehen, nur zu Themen eingebunden zu werden, die die Politik als unwichtig genug empfindet oder bei der Entscheidungsträger:innen keine Konsequenzen für ihr eigenes politisches Handeln fürchten müssen. Das alles könnte das Instrument als ineffektiv und wirkungslos erscheinen lassen und das Bild verfestigen, dass die Politik gar nicht ernsthaft daran interessiert ist, Bürger:innen in wichtige Entscheidungen einzubinden. Wissenschaftliche Studien zeigen jedoch, dass die Qualität politischer Maßnahmen maßgeblich davon abhängt, für wie fair Bürger:innen den Erarbeitungsprozess halten. Dies wiederum wirkt sich auf den erreichten Konsens und die gesellschaftliche Akzeptanz, der in diesem Prozess entwickelten Maßnahmen, aus. Fairness stärkt also die Robustheit demokratischer Entscheidungen. Und Bürger:innenräte können diese notwendige Fairness fördern. Hierbei ist vor allem wichtig, dass Bürger:innen das Gefühl haben relevante und bedeutsame Aspekte der Problematik mitbeeinflussen zu können. Wenn das Vertrauen in diese Mitbestimmungsmöglichkeiten leidet, schwächt das auch die wahrgenommene Glaubwürdigkeit und Integrität der Politik. Und das kann im schlimmsten Fall tatsächlich gefährlich werden, denn Misstrauen ist ein Keim für eine verstärkte Entfremdung zwischen der Bevölkerung und ihrer gewählten Vertretung.  

Was sollte die Politik am besten tun?

Es ist leichter gesagt als getan, aber die Politik sollte sich darauf besinnen, was Bürger:innenräte leisten können: konstruktive Diskursräume für die wirklich dringenden Herausforderungen schaffen. Mit Bedacht gewählte Themen können durch ihre Konkretheit, Kontroverse und gesellschaftliche Bedeutung notwendige Aufschlüsse über die Tragfähigkeit und Legitimität politischer Maßnahmen geben. Durch einen hohen Bezug auf unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, bestehende Werte- und Zielkonflikte und eine hohe ressortübergreifende Relevanz, können sie hilfreiche Orientierungen für dringend anstehendes Handeln bieten.

Denn in Zeiten sich überlappender Krisen müssen mutige Entscheidungen getroffen werden. Hier können Bürger:innenräte eine wichtige Orientierung bieten. Das ist nicht immer ohne Risiko für die Parteien, aber es ist auch eine Chance für mehr Legitimation, Akzeptanz und gelebter Demokratie. Klingt ein bisschen nach einem Wagnis, oder? 

Dieser Beitrag erschien in gekürzter Form am 7.3.2023 als Gastbeitrag in der Frankfurt Rundschau unter dem Titel „Mehr Mitsprache und Teilhabe„.